Stell dir vor, du arbeitest in einer großen Versicherung und läufst täglich an Kunstwerken vorbei, die zusammen ein ganzes Museum füllen könnten. Aber leider gibt es überhaupt keine Informationen über diese Kunstwerke, mit denen du sie näher kennenlernen könntest. Und bei Google findest du auch nichts Vernünftiges. In dieser zugleich glücklichen und unglücklichen Lage befanden sich lange Zeit hunderte Angestellte der Allianz Versicherung am Standort München-Unterföhring. Bis – ja bis sich die Unternehmensführung ein Herz nahm und einen Kunstführer in Auftrag gab, der die Kunstwerke der hauseigenen Sammlung den Mitarbeitern und Gästen des Konzerns näher bringen sollte. Die hochkarätige Sammlung wurde in den Jahren um die Jahrtausendwende in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Kurator Harald Szeemann aufgebaut und enthält u. a. Werke von Neo Rauch, Joseph Kosuth, Sigmar Polke und Rosemarie Trockel.
Im Rahmen dieses von Dr. Katja Kwastek geleiteten Projektes habe mich mit je einem Kunstwerk von Rémy Zaugg und Micha Ullmann auseinandergesetzt und kurze Texte dazu geschrieben. Diese sollten sowohl kunsthistorisch fundiert als auch allgemeinverständlich sein. Weil neben der Kunstgeschichte das Texten meine andere große Leidenschaft ist, stammt der Titel „Kunst in Sicht“ ebenfalls von mir. Da das Urheberrecht leider die Abbildung der Kunstwerke an dieser Stelle verbietet, kann ich nur die dazugehörigen Texte online stellen.
Rémy Zaugg: aus der Perceive-Serie Nr. 11, 1990/93
Acryl und Siebdruck auf Leinwand, 112 x 100 cm
Man muss schon sehr genau hinsehen, um das Bild Zauggs zu lesen. Was dabei passieren kann, hat der Künstler selbst so ausgedrückt: „Betrachten bedeutet zum Sprechen zu bringen“. Tatsächlich beginnt das Werk ganz unmittelbar zu kommunizieren: „Schau, vielleicht bist du gar nicht hier“.
Zaugg behandelt in seinem Werk vor allem die Bedingungen der Wahrnehmung von Kunst und Welt. In diesem Fall ergänzen sich Erscheinungsbild und Sprache, um den Blick des Betrachters weg vom Kunstwerk auf sich selbst zu lenken. So, wie sich die Buchstaben vor dem fast gleichfarbigen Hintergrund beständig dem Blick entziehen, wird auch der sie ansehende Mensch in seiner Präsenz in Frage gestellt. Was nicht hier sein konkret bedeutet, bleibt freilich offen und ist auf verschiedenen Ebenen deutbar. In jedem Fall ist es eine Aufforderung, sich in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk seiner selbst bewusst zu werden.
– Benjamin Friedrich
Micha Ullman: Sandbibliothek, 1997
Eisen, roter Sand aus Israel, 226 x 352 x 30 cm
Ein Regal ganz ohne Bücher und doch angefüllt mit dem gesamten Wissen der Welt – das ist Ullmans Sandbibliothek. Für den Künstler beherbergt der Boden, die Erde und eben auch der Sand das Erbe und vor allem die Erinnerung der Menschheit, denn jedes Ereignis hinterlässt eine Spur und verändert seine Umgebung. In Ullmans Werk finden sich Einflüsse verschiedener Kulturen: die ausgeprägte jüdische Erinnerungstradition etwa oder die wichtige Rolle, die die Bibliothek als Tempel des Wissens auch in Europa spielt. Auch Sie sind ausdrücklich eingeladen, ihr individuelles Werk der Bibliothek hinzuzufügen und ein Zeichen Ihrer Anwesenheit im aus Israel stammenden Sand zu hinterlassen. Auch wenn dieses einmal nicht mehr lesbar sein wird, so haben Sie doch die Anordnung der Sandkörner unwiederbringlich verändert und so unauslöschbar Ihre Spur hinterlassen.
– Benjamin Friedrich